Kritische Infrastruktur in Lübeck: Störungsmanagement wie auf der „Raumschiff-Brücke“6 min read
Lesedauer: 5 MinutenÜber 220.000 Netzverbraucher sind im Großraum Lübeck darauf angewiesen, dass die Versorgungssicherheit mit Gas, Wasser und Strom selbst im Störungsfall aufrechterhalten wird. Dabei müssen die Operator in der Leitstelle der zuständigen TraveNetz GmbH nicht nur Störungen frühzeitig erkennen und erfassen können, um etwa zügig entsprechende Einsatzfahrzeuge für die Wartung entsenden zu können. Weil die Stadtwerke zur Kritischen Infrastruktur (KRITIS) zählen, sind auch hohe Standards bei der Verfügbarkeit und Redundanz der Systeme einzuhalten. Da die JST – Jungmann Systemtechnik GmbH & Co. KG viel Erfahrung mit der individuellen Ausgestaltung zukunftsfähiger Netzleitstellen hat, wurde sie mit der Modernisierung der in die Jahre gekommenen Warte in Lübeck beauftragt.
Bunte Verbrauchsbalken und Spannungsdiagramme flimmern heute über die Monitorwall der modernsten Netzleitstelle Schleswig-Holsteins. Doch das war nicht immer so: „Wenn man es genau nimmt, war unsere Anfang der 2000er implementierte Leitwarte sogar weit mehr als 20 Jahre alt“, berichtet Detlef Zuhl, Leiter der Netzleitstelle bei der TraveNetz GmbH im norddeutschen Lübeck. „Schließlich arbeiten wir im 24/7-Wechselschichtbetrieb, was eine Nutzungsdauer von mehr als 60 Jahren ausmacht.“ Als sich die TraveNetz GmbH als Teil der Stadtwerke Lübeck im Jahr 2020 mit einer Netzerweiterung konfrontiert sah, war schnell klar, dass auch eine Modernisierung der Leitwarte notwendig wurde. Durch die Anbindung von 110 weiteren Gemeinden wuchs das zu überwachende Netzgebiet sprungartig an – und damit gleichzeitig auch die Datenmenge, die in der Leitstelle überwacht und interpretiert werden muss. Dies stellt klassische Setups, bestehend aus festen Arbeitsplätzen mit einer Vielzahl von starren Monitoren und einem Wirrwarr an Peripheriegeräten, vor unlösbare Aufgaben. Denn sie ermöglichen keinerlei flexibles Umschalten und Abrufen unterschiedlicher Systeme. Hinzu kommt, dass die heutige Versorgungslandschaft zunehmend volatil gestaltet ist. Netzbetreiber sowie deren Leitstellen müssen darauf vorbereitet sein, einzelne und neue Versorgungspunkte wie PV-Anlagen ohne großen Aufwand in die Netz- und Störungsmanagementstruktur einzubinden.
Kontrollraum-Simulator erleichterte Entscheidung
Einen ersten Kontakt mit den Kontrollraumspezialisten von JST gab es bereits 2019, als eine Konferenz in Hamburg Gelegenheit zum Austausch bot. Aufgrund weiterer Empfehlungen nahmen Vertreter von TraveNetz gemeinsam mit dem ausführenden Architekturbüro zu Beginn der Planungsarbeiten an der neuen Leitwarte die Einladung an, im JST Kontrollraum-Simulator vorab alle technischen Möglichkeiten auszuloten. „Was wir dort erlebt haben, hat uns wirklich beeindruckt“, erinnert sich Detlef Zuhl. „Dass wir die technischen Anwendungen selbst ausprobieren konnten, war für die Entscheidungsfindung sehr hilfreich.“ Man beschloss, die Monitoranzahl für die Operator drastisch zu reduzieren und die anspruchsvolle Darstellung der Stadt- und Landversorgungsnetze mithilfe der JST Multi Consoling- sowie Leinwand-Technologien digital und übersichtlich zu organisieren – anstatt wie bisher mit einer analogen Übersichtskarte im Raum zu arbeiten.
Multicenter ermöglicht flexible Anzeige aller Systeme
Die Prozessführung sowie der sichere Betrieb der Anlagen und Netze in der Strom-, Gas-, Fernwärme- und Trinkwasserversorgung in Lübeck sowie der umliegenden Region erfolgen nun über lediglich vier Arbeitsplätze. Diese sind in der Warte in halbrunder Formation angeordnet und mit jeweils einer eigenen Großbildwand verbunden. So benötigen die Operator nicht länger eine Vielzahl an unterschiedlichen PC- und Monitorplätzen. Dank des Multi Consoling-Konzepts werden alle Rechner-, Kamera-, System- und Sensordaten aus den angeschlossenen PCs und Datenpunkten des Versorgungsnetzes gebündelt und an den Operator-Plätzen sowie Videowalls bereitgestellt. „So können wir sekundenschnell zwischen verschiedenen Netzabschnitten und Systemen wechseln und die Daten an den Arbeitsplätzen individuell darstellen“, erklärt Dirk Lüders, zuständiger Projektleiter sowie Marketing & Sales Director International bei JST. Sogenannte Grabber übernehmen zusammen mit dem Multi Center die Koordination der Signale und „entscheiden“, welche Anzeige auf welchem Monitor zu sehen ist. Gleichzeitig ermöglichen vier Displaywalls einen aktuellen Gesamtüberblick für das ganze Team. Über die automatisierte Eventsteuerung werden dort alle relevanten Rechner und Kameras ohne Einwirkung der Operator aufgeschaltet. So lässt sich der Workflow beispielsweise bei eingehenden Störsignalen deutlich optimieren.
Intuitive und gut organisierte Visualisierung der Daten
Die Operator arbeiten im Schichtbetrieb und sind dabei nicht nur für verschiedene Bereiche wie Fernwärme und Strom zuständig, sondern müssen auch sektorübergreifend stets den Überblick behalten. Entscheidend ist daher eine intuitive und gut organisierte Visualisierung der Daten. Aus diesem Grund sind in den Operatorpulten JST Command Pads integriert, die sich die intuitive myGUI-Bedienoberfläche zu Nutze machen. Die komplette Leitstelle ist dabei im 3D-Layout gespiegelt. Auf diese Weise lassen sich die einzelnen Systeme flexibel aufrufen und anordnen. Die Operator können mit wenigen Klicks zwischen einzelnen Versorgungsbereichen wie Stadt und Umland wechseln. Außerdem ermöglicht das Multi Consoling komfortabel die Einbindung weiterer Versorgungspunkte; etwa neuer PV-Anlagen, die im Rahmen des Netzausbaus entstehen. „Alles, was wir benötigen, ist ein Grafikkartenausgang. Damit lässt sich jedes System über das Multi Streaming anschließen und in das Multi Center einbinden“, beschreibt der Netzleitstellenleiter.
Redundante Signalverarbeitung verhindert Systemausfall
Als Ergänzung zum Kontrollcenter selbst wurde auch der angrenzende Krisenraum mit einem Command Pad ausgestattet. „Dies bietet uns die Möglichkeit, Meetings, aber auch Übungen etwa für einen Blackoutfall durchzuführen, ohne die aktuelle Versorgungslage aus den Augen zu verlieren“, erklärt Detlef Zuhl. „Darüber hinaus können wir per Knopfdruck relevante Daten, Prozessbilder und Systeme aufrufen und als Grundlage für die Übungen oder den Krisenstab heranziehen.“ Deshalb bietet der Konferenztisch individuell bestimmbare Optionen für die Integration externer Informationen. So können beispielsweise Daten angeschlossener Notebooks auf einer Großbildwand im Raum für alle sichtbar gemacht werden. Allerdings ist den Verantwortlichen nicht nur eine flexible Darstellung wichtig, die eine bessere Übersicht und somit auch schnellere Reaktionszeit sicherstellt. Aufgrund der KRITIS-Natur des Standorts war auch die hohe Verfügbarkeit ein essentielles Kriterium für die Umgestaltung: „Wir können in einer Netzleitstelle nicht einfach einen Tag aussetzen, bis die Prozesse fortgeführt werden“, so Dirk Lüders. „Das muss alles reibungslos laufen.“ Daher sind die einzelnen JST-Systeme redundant ausgelegt. Beim Ausfall einer Systembaugruppe übernimmt augenblicklich ein zweites Cluster deren Funktionen. „Zusätzlich sind für alle Signalquellen und -ausgänge – also sowohl für jede Bedienstation aus dem Prozessleitsystem als auch für jeden Monitor, der etwas ausgeben muss – redundante Anschlüsse vorhanden“, ergänzt der Netzleitstellenleiter.
Modernste Netzleitstelle Schleswig-Holsteins überzeugt Besucher
Wer die modernisierte Netzleitstelle betritt, dem drängt sich automatisch der Vergleich zu Bildern aus der Science-Fiction-Welt auf: An den vier Operator-Tischen und Großbildwänden laufen enorme Datenmengen zehntausender Sensoren, Messfühler, Relais und Schaltkreise zusammen. Sie geben Auskunft über sämtliche Erzeugungs- und Verteilungsströme, Behälterstände oder Pumpenleistungen. „Viele Besucher, die auch aus anderen Warten zu uns kommen, sind im ersten Augenblick erstaunt und vergleichen den Kontrollraum mit dem aus dem TV bekannten Raumschiff Enterprise“, resümiert Detlef Zuhl. „Auch das bestätigt uns, dass wir mit JST den richtigen Partner gefunden haben, der uns im Workflow überzeugende Technik, ergonomische Möbel und praktische Großbilddisplays aus einer Hand bieten kann.“
Erschienen in zek KOMMUNAL Ausgabe 1/2024
Teilen: